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Montag, 3. Oktober 2016

Jan Brandts „Stadt ohne Engel“: Auf der Suche nach der verlorenen Gegenwart


Nur sechs Jahre trennen das Erscheinen der Bücher „Stadt ohne Engel“ von Jan Brandt (2016) und „Stadt der Engel“ von Christa Wolf (2010). Den 1974 geborenen Autor und die 2011 verstorbene Autorin trennen dagegen zwei Generationen und der ungeheure Abgrund zwischen deutscher Vergangenheit und der globalen Gegenwart.

Christa Wolf ist 1992 auf Einladung des Getty Centers mehr oder weniger nach Los Angeles geflohen, teils, um den Anfeindungen und der Heimatlosigkeit im vereinigten Deutschland zu entkommen, teils um sich den Herausforderungen der Wende zu stellen, eine autobiographische Rückschau zu halten und sich dabei an den mit LA verbundenen Engeln der Vergangenheit - Thomas Mann, Brecht, Feuchtwanger - festzuhalten. Sie konnte das alles erst kurz vor ihrem Tod in einem letzten starken Buch gestalten.

Auch Jan Brandt kommt aus Berlin, der Stadt der Vergangenheitsengel (vgl. Cees Nootebooms „Allerseelen“) , mit einem Stipendium im Jahre 2014 für drei Monate in die luxuriöse „Villa Aurora“ in die „Stadt ohne Engel“, in ein Los Angeles voller Dämonen, die unsere Gegenwart bestimmen. Auch er hält eine autobiographische Rückschau, konfrontiert das Leben eines in seiner Anwesenheit ermordeten 22jährigen Mexikaners in LA mit seiner Jugend in Ostfriesland und als 22jähriger Student in Köln (Jan Brandt hat 2011 mit seinem Roman „Gegen die Welt“ Furore gemacht) und sucht – ganz anders als bei Christa Wolf – gerade die wilden Orte der mythischen Medienstadt auf.

Aber in erster Linie stellt er in seinem neuen Buch der jahrzehntelangen deutschen Rückwärtsgerichtetheit eine starke Reportage unserer globalisierten Gegenwart gegenüber. Wir leben in diesem Jahrzehnt – gerade auch in Deutschland - auf einer historischen Wasserscheide. Schon in wenigen Jahren wird unsere Welt eine völlig andere sein. Das zentrale Kapitel, doppelt so lang wie alle anderen, beschäftigt sich mit den neuen Großmächten unserer Kultur: mit dem “Circle” von Apple, Google, Facebook. Dies gestaltet Jan Brandt in der dichten Beschreibung einer Folge scheinbar zufälliger Begegnungen mit jungen kreativen und exzentrischen Personen. Er verbindet dabei die Qualitäten eines recherchierenden Journalisten mit denen eines tiefernsten und völlig un-ironischen Romanciers und Beobachters.

Unsere Gegenwart haben wir schon verloren. Jan Brandt hält sich als Akteur in seinem Buch auffällig zurück. Er hört zu und beobachtet und lehrt uns, die Spuren unserer Zeit anzuschauen. Dazu tragen auch seine großartigen Fotografien bei, die der Verlag dem besonders schön gestalteten Buch in üppiger Weise beigegeben hat.


Jan Brandt, Stadt ohne Engel. Wahre Geschichten aus Los Angeles, DuMont Buchverlag: Köln 2016, 383 Seiten, € 22,99

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