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Freitag, 12. August 2016

Walter Kappacher, Land der roten Steine (1-4)



Längere oder mehrteilige Blogbeiträge speichere ich auch unter dem Label „Vorträge“ ab. Heute ergänze ich das Label mit meiner Besprechung von Walter Kappachers Roman „Land der roten Steine“, die ich im Juni 2012 ins Blog gesetzt hatte.

 
Walter Kappacher, Land der roten Steine (1): Ein Tryptichon


für Walter Schönau
 
Vor zwei Jahren haben wir im Landhaus Rothenberge Walter Kappachers Roman Selina oder Das andere Leben besprochen, die Geschichte eines deutschen Lehrers, der sich in ein verfallenes Bauernhaus in der Toskana zurückzieht.
Vielleicht hat Kappacher damals gefühlt, wie nah wir ihm, dem Scheuen, in unseren Gesprächen gekommen sind, jedenfalls lässt er seinen neuen Roman in einem fernen Land der roten Berge spielen. Das Buch ist gegliedert wie ein Tryptichon: der große Mittelteil fällt besonders ins Auge. Er enthält die überaus genaue Beschreibung einer fünftägigen Wanderung durch die faszinierende Berglandschaft des Canyonlands-Nationalparks im amerikanischen Bundesstaat Utah.

„Land der roten Steine“ (2012): Ein deutsches Amerikabuch, dachte ich beim ersten Lesen. Hatte ich Selina so schnell vergessen?
Kappachers Protagonist Michael Wessely, ein österreichischer Arzt kurz vor der Pensionierung, erfüllt sich mit dieser Reise einen Traum, und seine Beschreibung dieser Reise, die über die Hälfte des schmalen Büchleins einnimmt, lenkt den Leser zunächst einmal völlig von den komplizierten biographischen Bezügen der Hauptfigur ab. Wessely hat sich sorgfältig vorbereitet, nicht mit touristischen Reiseführern, sondern mit der Lektüre der Aufzeichnungen zweier Amerikaner, die in diesem Gebiet gelebt haben: die Briefe und Tagebücher von Everett Ruess und Edward Abbey’s  Desert Solitaire. A Season in the Wilderness. Beide Autoren werden in Wesselys Erzählung wiederholt angeführt. Ruess hatte sich mit 19 Jahren entschlossen, in der atemberaubenden Schönheit (und Gluthölle) der Canyons zu leben und war ein Jahr später (1934) spurlos verschwunden. (Sein Skelett wurde erst nach 75 Jahren 2009 in einem Felsspalt entdeckt.) Seine hymnischen Beschreibungen des Lebens in dieser Landschaft haben ihn in den USA zu einer Kultfigur gemacht. „Everett“, so heißt auch der indianische Führer Wesselys. Es lohnt sich immer, auf Kappachers Namengebungen zu achten.
Auch Edward Abbey (1927-1989) ist eine amerikanische Kultfigur: In Desert Solitaire (1968) berichtet er von seiner Zeit als Ranger für den National Park Service in den Jahren 1956/57. Das Buch gilt als eine der schönsten Naturbeschreibungen der amerikanischen Literatur und wird in einem Atemzug mit Thoreau’s Walden genannt. Mit den Flussaufstauungen im 20. Jahrhundert wurde den Canyonlands, die Jahrtausende von kleinen Indianerpopulationen bewohnt gewesen waren, das notwendige Wasser entzogen. Abbey ist über diese Entwicklung zum radikalen Naturschützer geworden.
Wandertouren dort bemessen sich heute nach der Literzahl Wasser, die man zu schleppen imstande ist. Wer sich dabei verrechnet, kommt um. Nicht nur ältere Menschen geraten hier körperlich an ihre Grenzen. Wesselys herzschwacher indianischer Bergführer zeigt ihm, teils mit dem Jeep, teils zu Fuß, die drei Teile des Nationalparks: Island in the Sky, Needles und als Höhepunkt The Maze, das Labyrinth.
Kappachers Beschreibungen gehört nun ihrerseits zu den schönsten und intensivsten Landschafts- und Naturbeschreibungen in deutscher Sprache. Sie vergegenwärtigen dem Leser das Naturerlebnis intensiver, als die Betrachtung eines noch so schönen YouTube-Filmchens es vermag.
Aber dies ist nur der mittlere Teil des Roman-Tryptichons. Was steht auf dem linken und rechten Seitenflügel, die den Bericht vom Land der roten Steine einrahmen? Spätestens wenn ich die drei Kapitelüberschriften nenne, wird klar, dass es sich hier – wie in Selina – um die Möglichkeit eines anderen, neuen Lebens handelt: Vita nuova, De vita beata, La vita breve. Dies sind gleichzeitig die Titel von Schriften der Weltliteratur, von Dante, Seneca, Juan Carlos Onetti, die gleichsam die Patenschaft für die drei Teile des Romans übernehmen sollen. Senecas Traktat Das glückliche Leben hat schon in Selina eine wichtige Rolle gespielt.
Das verlangt einen neuen Anlauf für meine Betrachtungen…

Walter Kappacher, Land der roten Steine (2): Ein Landarzt

Nein, man darf Selina nicht vergessen. Im „Land der roten Steine“ übernimmt die Amerikanerin Monica ihre Rolle. Die abwesende Monica wird – wie Dantes Beatrice – zu einer Obsession Wesselys und bestimmt seine Gedanken, seine Träume, sein Handeln. Er hatte sie vor einigen Jahren zufällig in der Nähe von Gastein kennengelernt, als sie mit angeknackstem Knöchel am Wegesrand saß. Seine Beziehung zu ihr war nur kurz, aber intensiv gewesen. Sie war es, die ihm zu dieser Reise geraten und ihm das Buch von Edward Abbey geschickt hatte.
„Die Erinnerung an Monica schien sich endlich in entlegene Canyons (sic!) seines Kopfes zurückgezogen zu haben“ (12), sagt der Erzähler am Anfang über Wessely, aber als dieser sich hinsetzt und den Bericht seiner Reise schreiben will, kehrt sie zurück: „Hier sitze ich, ein alter Landarzt, und will etwas aufschreiben, das im Gestaltlosen hinter mir liegt und dessen ich doch innegeworden war…“ („Ein alter Landarzt“? Hier öffnet Kappacher ein Fensterchen zu Kafkas Erzählung Ein Landarzt!) Und Wessely spricht die Abwesende an:
„Heute Nacht hat mir wieder einmal von dir geträumt, Monica. Wir standen auf der Treppe meines Hauses, und ich überlegte: hinauf oder hinunter? Nun denke ich schon seltener an dich und schäme mich nicht mehr meiner verrückten Besessenheit. Unser Nachmittag war das Schönste, was ich mit einer Frau je erlebt habe. Und du hast mich in The Maze gebracht. Das seien ganz andere Gebirge, hast du gesagt, dort sei der Mensch dem, was wir Gott nennen, näher als hier zwischen den in den Himmel ragenden, unheimlichen, spitzen Bergen mit ihrem ewigen Eis“ (28).
(Hier deutet sich zum ersten Mal eine Gegenüberstellung der amerikanischen und der österreichischen Gebirgswelt an, einer hellen, paradiesischen und einer dunklen, verschneiten, eisigen Welt.)
Monica hat etwas Geheimnisvolles, Unergründliches. Sie scheint mit anrüchigen Geldgeschäften zu tun zu haben. Ihren Aufenthalt im „Grünen Hof“ in Gastein beschreibt sie als ein prächtiges Versteck und in ihrem Telegramm aus den USA, das Wessely nach der Reise erreicht, schreibt sie, sie habe drei Jahre „unter falschen Anschuldigungen“ im Gefängnis gesessen. Sie unterzeichnet mit „Mrs. Signorelli-Gordon“. Signorelli? Offenbar ist Monica mit einem Italiener verheiratet. (Und mit diesem Namen verbindet sich einer der größten Renaissance-Maler Italiens: Luca Signorelli, dessen Hauptwerk das dreiteilige Fresko Das Jüngste Gericht in der Capella Nuova in Orvieto ist. Das Jüngste Gericht, Paradies und Verdammnis: Kappacher, dem so viel Zurückhaltung nachgesagt wird, ist in der symbolischen Aufladung seiner Figuren geradezu aufdringlich!)
Wesselys Träume drehen sich um Monica, vor, während und nach der Reise. Sie ist die Ursache und das Ziel dieser Expedition, deren Höhepunkt in der Besichtigung der Jahrtausende alten Felsmalereien der Great Gallery besteht: rätselhafte, lebensgroße Figuren. Hier vermischen sich Realität und Traum:
„Ich ging auf der linken Seite der Gallery entlang, bis ich vor einer Figur beinah erschrak: Es musste die Abbildung des Holy Ghost sein, von der Everett während der Wanderung kurz gesprochen hatte. Die Figur war größer als die anderen, durchsichtig, mit riesigen Augenhöhlen und einem bis zum Nabel skizzierten schmalen Bart. Dicht neben ihm zur Seite zwei ganz schwarz gemalte kleinere Figuren, offensichtlich Frauengestalten“ (114-115).
In dem Roman, dessen Titel Kappacher als Überschrift für sein drittes Kapitel gewählt hat, Onettis De vida breve (1950), erfindet sich die vom Leben frustrierte Hauptperson ein Alter Ego in der imaginierten Kleinstadt Santa Maria, einen Arzt, der sich in eine Patientin verliebt. In einem selbsttherapeutischen Akt spielt die Hauptperson mit dieser Figur allerlei alternative Möglichkeiten des Lebens durch, freilich ohne damit zu einer wirklichen Lösung zu kommen. Dies ist auch das poetologische Prinzip in Kappachers Roman. Wessely ist nicht Kappacher, er ist sein Avatar.

Walter Kappacher, Land der roten Steine (3): Der Ruhestand

Im dritten Teil des Romans ist Wessely zurück im heimatlichen Gastein. Erst jetzt erfährt er vom Tode seines Vaters und seines einzigen Freundes Hans. Vorher waren schon seine Mutter und seine frühere Frau gestorben. Es wird einsam um ihn, und nun wird er auch noch seine Arbeit verlieren und sein Haus aufgeben. Er steht vor dem „Ruhestand“. Von Tag zu Tag schneit es mehr. „Der Schnee bedeckte jetzt anscheinend die ganze Welt“ (136). Das schränkt seine Bewegungsfähigkeit ein. Die Kutsche mit zwei Pferden (vergleiche Kafka: Ein Landarzt!), die täglich zum Gasthof Prossau fährt (dort in der Nähe war seine erste Begegnung mit Monica), will er nicht benutzen. Immer mehr ähnelt seine Situation der des Landarztes in Kafkas Erzählung. Das neue, das andere Leben: es will einfach nicht kommen. Die österreichische Bergwelt wird zur düsteren Gegenwelt der Canyonlands. Die Zeit läuft davon, das kurze Leben: „Plötzlich wischten die Jahre an ihm vorüber, und er dachte: Aber das war ja nichts!“ (139).
Und doch: Eines Tages beginnt es kurz zu tauen, und er erinnert sich an sein tiefstes Erlebnis vom Anfang seiner Reise:

„Er dachte, in meiner Reiseerzählung hab ich den Zustand, in den dieser Anblick mich am ersten Reisetag versetzt hat, zu beschreiben versucht, aber er war für mich jenseits des sprachlich Erfassbaren gewesen. Es handelte sich um etwas Unaussprechliches; er hatte – wie viele Wochen war das schon wieder her – sogar davor kapituliert, das, was sichtbar gewesen war, zu beschreiben, ohne die Empfindungen, die es auslöste. Etwas hatte sich in ihm gezeigt, das doch Materie war, Gestein, Form und gleichzeitig etwas wie strahlende, rätselhafte Energie. Seit unvorstellbaren Zeiten war es da gewesen, seit Ewigkeiten, so kann man Zeitläufte nennen, die dem Menschen unfassbar sind. Es zu schauen, war wohl das höchste an Glücksgefühlen gewesen, was er je erlebt hatte, so als hätte er für einen Moment in das seit Anbeginn verlorene Paradies blicken dürfen. Er wünschte sich heftig, diese Erinnerung kehre irgendwann wieder, er war sicher, dies würde ihm helfen zu dem neuen Leben zu gelangen, das er sich so sehr wünschte“ (149).

Die mystische Überhöhung, die hier einsetzt, unterstützt Kappacher noch mit den Schriften von Meister Eckhart und Paracelsus, die er Wessely lesen lässt. „Mit zwei Stichwörtern aus dem Index der Eckhart-Ausgabe wollte er sich einmal beschäftigen, mit dem Begriff des Lassens und jenem des Nichts. Beides, so fühlte er, hatte mit seinem künftigen Leben zu tun“ (146).
Kurz darauf trifft das Telegramm der verschwundenen Monica ein, in dem sie ihre Wiederkehr für den kommenden Mai und ihren Plan, in Europa zu bleiben, ankündigt. Dea ex machina? Der Traum der folgenden Nacht spricht dagegen:

„Auf einmal befand er sich mit ihr im Horseshoe Canyon. Monica streckte einen Arm aus und zeigte auf zwei sehr dunkelfarbige Figuren, sie bestanden nur aus einem kopfähnlichen Umriss, aus kantigen Schultern, und aus diesen Schultern wuchsen schlierenartige Bänder, die am Ende in feinen Windungen ausliefen. Monica bewegte sich auf die Figuren zu. Er rief ihr nach, aber sie war schon verschwunden, und er überlegte, wie er sich ihr anschließen könnte, doch die schmale Öffnung hatte sich schon wieder geschlossen“ (153).

Wessely beginnt, seinen Zustand und seine Einsamkeit zu akzeptieren. Er stellt sich die Bücher zurecht, die er lesen möchte, unter anderen eine schöne Goethe-Ausgabe. Seine Gedanken drehen sich um Gott und das Nichts. So bleibt wenig Hoffnung auf eine vita nuova. Stattdessen Neuschnee. „Die unberührten Schneewächten an den Wegrändern – derzeit konnte er sich nichts Schöneres vorstellen.“ (158). Das Begrüßungsfeuerwerk für das Neue Jahr: er will es nicht hören. Wir müssen uns Wessely als einen zufriedenen Menschen vorstellen.

Walter Kappacher, Land der roten Steine (4): Postscriptum

Ich kann mir übrigens nicht vorstellen, dass Walter Kappacher die Beschreibung der Expedition durch die Canyonlands hat machen können, ohne sie selbst erlebt zu haben. Darüber ist mir aber nichts bekannt.
Hier ist noch ein Zitat aus dem Vorwort von Edward Abbey zu seinem Buch Desert Solitaire. A Season in the Wilderness, in dem er über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit schreibt, diese Landschaft mit Sprache zu erfassen:

This is not primarily a book about the desert. In recording my impressions of the natural scene I have striven above all for accuracy, since I believe that there is a kind of poetry, even a kind of truth, in simple fact. But the desert is a vast world, an oceanic world, as deep in its way and complex and various as the sea. Language make a mighty loose net with which to go fishing for simple facts, when facts are infinite. […]
Since you cannot get the desert into a book any more than a fisherman can haul up the sea with his nets, I have tried to create a world of words in which the desert figures more as a medium than as material. Not imitation but evocation has been the goal. […]
It will be objected that the book deals too much with mere appearances, with the surface of things, and fails to engage and reveal the patterns of unifying relationships which form the true underlying reality of existence. Here I must confess that I know nothing whatever about true underlying reality, having never met any. There are many people who say they have, I know, but they’ve been luckier than I.
Edward Abbey, Desert Solitaire. A Season in the Wilderness (1968) p. x-xi

Ich habe noch einmal geprüft, wie Kappacher vorgegangen ist. Seine Beschreibungen im zweiten Teil stimmen völlig mit diesen Vorgaben von Abbey zur Poetik des Faktischen und der Oberfläche der Dinge überein. Die mystischen Überhöhungen finden erst in Wesselys Erinnerungen und Träumen im dritten Teil statt. Ein schöner, ein kluger, ein weiser Roman!

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