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Mittwoch, 6. Juli 2016

Ann Cotten „Verbannt!“ – Ein Lesetagebuch (5): Ann’s Ahnen

Als ich G. den Anfang von „Verbannt!“ vorlas, sagte sie spontan: das klingt wie Benn, und wirklich: Ann Cotten bedient sich wie Benn der sprachlichen Repertoires von Antike und Gegenwart, von Mythologie und modernster Technik und Wissenschaft. Und sie hat auch etwas von seinem raunenden Sound, aber anders als bei Benn ist dieser nicht geprägt von pathetischem Ernst, sondern von einem spielerischen Unernst und einer formalen Witzigkeit (vgl. den kommenden Beitrag Ann’s Reime!). Das ganz und gar Besondere aber ist, dass dieser durchgehende Unernst ständig von der Radikalität des Gesagten gebrochen wird. Das ist mir in der Literatur noch nie begegnet: Nicht Ironie bricht Ernst, sondern anders herum! Die Leichtigkeit der Verse verhüllt die Schwere der Aussage. Dieses Versepos ist in der modernen deutschen Literaturgeschichte ohne Vergleich!

Natürlich hat Cotten ihre Lehrmeister, demonstrativ sogar: Sie streut die Namen von einem guten Dutzend Dichtern und Denkern in den Text ein und zitiert auch ab und zu ein paar Zeilen. Vier Dichter scheinen für ihre radikale epische Konstruktion und ihre Sprache eine besondere Rolle zu spielen: sie werden mit Vor- und Zunamen genannt: Inger Christensen (S. 8), Edna Millay (S. 40), Gottfried Benn (S. 44), John Giorno (S. 48).

Zu Inger Christensen (1935-2009) habe ich gleich in meinem ersten Beitrag etwas gesagt. Sie hat mit ihrem 230seitigen Gedichtzyklus „det“ wohl das Vorbild für die kühne Größe des Versprojekts von Cotten gegeben und für den Anspruch, ein Weltgedicht über “Alles” präsentieren zu wollen.

Von der eher antimodernen Amerikanerin Edna Millay (1892-1950) zitiert Ann Cotten einen Vers aus dem eindringlichen Gedicht “Ebb”. Die intensiv gelebte und gedichtete Sexualität und Bisexualität Millays dürfte sie angesprochen haben. Zur Rolle der Sexualität in “Verbannt!” werde ich mich in einem späteren Beitrag noch äußern.

Mit Gottfried Benn (1886-1956) verbindet Cotten außer den oben angesprochenen Faktoren die radikale Zivilisationskritik wie sie etwa in seinem Gedicht “Qui sait” formuliert ist. Wenn ich mich nicht täusche, schwingen Aussagen dieses Bennschen Gedichts in Strophe 1 und 2 auf Seite 44 von “Verbannt!” im Hintergrund mit („Die Wirklichkeit ist blöd. Ich habe Horror vor/vor allem unserer menschlichen Geschichte“).

Und der amerikanische Dichter und Performancekünstler John Giorno (geboren 1936, "We ARE the god. We ARE Computers", Zitat S. 48) hat bereits vor 50 Jahren bemerkt, dass die Lyrik 75 Jahre hinter Malerei und Skulptur, Musik und Tanz hinterherhinke. Daran, diesen Rückstand aufzuholen, hat er zeitlebens gearbeitet.

Und glaubt’s mir: Ann Cotten tut das auch!

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