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Montag, 27. Juni 2016

Ann Cotten "Verbannt!“ – Ein Lesetagebuch (3)



Ann Cotten (Foto: Stephan Rumpf)
„Nicht aufgeben!“, möchte ich den Leserinnen zurufen. Ann Cottens Versepos ist struppig und ruppig und hat – wie in meinem letzten Beitrag erwähnt – nichts mit einer normalen Handlung zu tun. Es funktioniert einfach anders.

Deshalb kann mein Versuch, Cottens Einleitung in „Alltagssprache“ zusammenzufassen, die Leser auch in die Irre führen: solch eine Rationalisierung wird dem lyrischen Ich, das sich hier sprachlich entblättert, nicht gerecht. Sie soll nur die neugierige Grundhaltung befördern: Ach, hier geht es um etwas Konkretes aus unserem Alltagsleben! Ja, das tut es! Aber ganz anders!

Der Text erhält durch seine lyrischen Anspielungen, Zitate, Reime, Wörterwelten immer neue Dimensionen. In meinem ersten Beitrag habe ich meine Assoziation zu den Anfangsversen von Goethes Zueignung zum „Faust“ erwähnt. Und so gibt es vieles, immer wieder Neues, auch in der Einleitung schon, das in einer „Zusammenfassung“ gar nicht vorkommt.

Ein Beispiel: Strophe 3 der Einleitung habe ich wie folgt zusammengefasst: „Ann erinnert sich an das Frauwerden und die damit verbundenen gesellschaftlichen Zwänge“. Was steht dort wirklich:



Verwirrt von alten Schirrungen also, die Brust der Mädchen

Für Schwellung vorbereitend – für zwei kleine Schädchen,

von oben anzusehn wie Kuppelgräber,

in denen Hoffnungen liegen wie zwei heilige Rüstungen-,

zusammen mit den einwohnenden Geistern von mir selber

will ich rostfrei polieren mit Information die Utopien,

(…)



Diese paar Verse sind so übervoll mit Inhalt, mit lyrischen und mit Denkbildern, dass jeder Leser, jede Leserin sie selber füllen und fühlen muss. Keine Zusammenfassung oder Explikation kann das erfassen. Zum Beispiel: Cotten benutzt das alte Wort „Schirrung“, das aus dem Zusammenhang von Zug- und Reittierhaltung kommt, in Zusammenhang mit dem ersten Büstenhalter, und wo logischerweise das Wort „Schälchen“ hätte stehen müssen, kommt sie mit dem Reim „Schädchen“ (auf Mädchen).



In die Abgründe dieser Verse muss man sich einfach fallen lassen.



Aber sie machen mich nicht sprachlos. Mein Lesetagebuch geht weiter. Pausen kann es geben, man braucht sie auch. Das Buch bietet eine Entdeckungsreise, für die die Wahrnehmungsorgane immer wieder neu justiert werden müssen.

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