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Dienstag, 16. Juni 2015

Retardierte Begegnungsgeschichte – Polen und die Niederlande im Vergleich

Anlässlich der Lektüre von Andrzej Stasiuks „Dojczland“ (Frankfurt am Main 2008) wird mir klar, dass eine „Vergleichende Begegnungsgeschichte“ nicht nur zu jeweils landesspezifischen Unterschieden führt, sondern auch zu Übereinstimmungen. Stasiuk beschreibt darin seine Empfindungen bei seinen vielen Reisen durch Deutschland, ähnlich wie Cees Nooteboom das aus niederländischer Sicht getan hat.

Mit der polnisch-deutschen Begegnungsgeschichte habe ich mich nur am Rande beschäftigt (nicht zu verwechseln mit der polnischen Geschichte: die war mir sehr wichtig); einfach aus dem Grunde, weil man zum Betreiben von Begegnungsgeschichte beide Sprachen gut beherrschen muss.

Ich habe bei Stasiuk eine Textstelle gefunden, die mich frappierend an einen 1978 veröffentlichten Text von Nooteboom erinnert:

„Ach, mich einfädeln in das surreale Netz der Autobahnen, mich verfransen in den übernatürlichen Trajektorien der Auffahrten, Überführungen und Ringstraßen. Fahren und nur zum Tanken anhalten. Ja, ein Jack Kerouac der Bundesrepublik sein, ein Dean Moriarty von Schleswig-Holstein oder Sachsen-Anhalt. Endlich dorthin fahren, wo die silbernen ICEs nicht hinkommen und wo kein Flugzeug landet. Die sechsspurigen Fahrbahnen verlassen, um in die bukolische Landschaft von Mecklenburg oder die Alpenlandschaft von Bayern einzutauchen und wieder zurückzufinden auf die Autobahnen, mit hundertfünfzig darüber donnern und zusehen, wie sich der rote Treibstoffzeiger unerbittlich dem ‘Empty’ nähert. Das werde ich irgendwann einmal machen. Ich komme mit dem Auto her und werde im Kreis fahren, in keine Stadt hineinfahren, nur immer die Wegweiser ablesen: Berlin, München, Frankfurt, Hamburg, und weiterdüsen. Bis in die Unendlichkeit und ins Nichts, bis der Motor auseinanderfliegt und die Karosserie total verrostet und ich an Schlaflosigkeit sterbe. Und dann halte ich in der Lindenstraße an und steige als Leiche in den dritten Stock hinauf, um das alles zu beschreiben.“

Andrzej Stasiuk, Dojczland, Frankfurt am Main 2008, S. 36f.


Und hier der Paralleltext von Nooteboom, der mich damals so betroffen gemacht hat und den ich als „Die Reise ins Nichts“ beschrieben habe.  Die Übersetzung ist von mir:

„Um genau neun Minuten nach sechs abends falle ich ohne nähere Krieg­serklärung in Deutschland ein. Die Schilder ändern ihre Farbe, die Buchstaben ihre Form, ich werde ein Ausländer, und während ich weiterfahre wird es dunkel. Es ist wenig Verkehr, Gelegenheit genug zu meditieren. Die deutsche Landschaft gleitet vorbei, und ich dringe in ein viel gröβeres Ganzes ein als dasjenige, aus dem ich gerade komme. Die Autobahn ist so etwas wie eine Bahn um die Erde. Wenn man irgendwo hin will, muss man den Kurs ändern. Schafft man es nicht, die Raketen­motoren rechtzeitig in Betrieb zu nehmen, dann wäre man dazu verdammt, auf ewig in einer Bahn um Deutschland zu kreisen, ohne jemals in Köln, Würzburg, Wertheim, Nürnberg, München oder wie die Krater auch heiβen landen zu können. Ein schimmelndes Skelett im Ewigen Mercedes.
Wer öfter nach Deutschland kommt, muss die Gefühle kennen, die mich langsam aber sicher umfangen. Aus dem Autoradio erklingt Musik für Lastkraftfahrer, dieselbe Art Musik, die beim Steig‑ und Sinkflug in Flugzeugen benutzt wird und dazu dient, durch ihre betäubende Wirkung die Angst vor dem Übernatürlichen zu beschwören. An der Autobahn liegen keine Städte. Da liegen nur Schilder, die Städte bedeuten sollen. Manchmal raucht in der Ferne wohl einmal ein Schorn­stein oder es erstreckt sich ein Wald die Hügel hinauf, in dem nach Aussage wiederum eines Schildes Hirsche zum Vorschein kommen können, aber Beweise gibt es nicht. Das Beste unter diesen Umständen ist, einfach zu einer Unio mystica mit der Autobahn zu kommen, sich mit dem Beton und den Rillen im Beton zu vereinen, denn nach einer Stunde oder länger, die man mit diesen geistigen Übungen verbracht hat, drängt sich einem die schreckliche Wahrheit auf: daβ Deutschland vielleicht gar nicht existiert. Schlieβlich hat man in anderen groβen Ländern (wie England oder Frankreich) auch Autobahnen, aber die münden im richtigen Augenblick immer wieder bei irgendeinem mittelalterlichen Dorf, durch das man in endlosen Staus stundenlang hindurch muss, aber dann weiβ man jedenfalls, daβ das Land existiert. Nicht hier. Wald, Wiese, Flur, Hügel, Gebirge sind flüchtige Schatten, und nur mit äuβerster Willenskraft zwinge ich mich aus dem schicksalhaften Kreis heraus und komme auf eine echte Straβe mit echten Pflastersteinen, Richtungsschildern in dieser merkwürdigen Farbe Gelb, derer ich mich noch aus meiner entschwundenen Jugend erinnere, Gasthäusern, aus denen Menschen herauskommen: ich bin in Köln, in einem Hotel neben dem Dom.“

Cees Nooteboom, Een avond in Isfahan, Amsterdam 1978, S. 50 (Übersetzung: Peter Groenewold)

Ich will jetzt nicht auf eine mögliche Analyse dieser Parallelität eingehen, sondern nur eine Frage stellen: Die beiden Texte sind im Abstand von etwa 30 Jahren entstanden. Eine ganze Generation liegt dazwischen. Kann es sein, dass für Polen eine „retardierte“ Begegnungsgeschichte zutrifft? Für Polen sind die Grenzen nach Deutschland erst seit 1990 offen (die vorherige Nachbarschaft zur DDR ändert daran nichts: da waren die Grenzen auch zu). Das heißt, die Polen haben erst seit 1990 die Chance, sich aktiv begegnungsorientiert zu Deutschland und den Deutschen zu verhalten. Daran mussten sie sich erst mal gewöhnen: In den ersten fünfzehn Jahren gibt’s da nicht viel, genau wie in den Niederlanden zwischen 1950 und 1965.


Das wiederum heißt, dass Stasiuk in seinem “Dojczland” von 2008 auf dem Stand von Nooteboom 1978 ist: retardierte Begegnungsgeschichte also.

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