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Mittwoch, 8. April 2015

Sebastian Stichnotes theatralische Sendung - Ein Leserblog zu Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ (7)

Ich habe mal bei Goethe reingeschaut, was es auch noch mit Wilhelm Meister und dem geheimnisvollen Mädchen Mignon auf sich hatte. Seit Migons „Eiertanz“ war die deutsche Sprache um dieses schöne Wort reicher.

Eine Romananalyse ist auch eine Art von Eiertanz. Das zeigt der Tanz der Germanisten um den Wilhelm Meister. Es gibt eine traditionale Interpretationsschule, die den Helden auf dem Weg zu ‚Heilung’ und ‚Glück’ sieht und eine moderne, die behauptet, man könne Meisters Bildungsgeschichte „mit gleichem Recht einen Zerstörungsroman nennen“ (Heinz Schlaffer).

Und ja, es drängt sich geradezu auf: Steffen Kopetzky orientiert sich mit seinem Bildungsroman „Risiko“ am klassischen Vorbild und nimmt dabei die Ambivalenz der Interpreten gleich mit hinein: Heilung und Glück auf der einen Seite, Leid und Tod auf der anderen.

Und was ist Sebastian Stichnotes theatralische Sendung? Er erlernt das geheimnisvolle Große Spiel” und muss bis ans Ende der Welt gehen, um es dort zu spielen und die Welt zu retten. Von Anfang an ist deutlich, dass er kein aggressiv-nationalistischer deutscher Soldat ist, sondern immer wieder auf Frieden und Ausgleich setzt und gerade dadurch  das “Große Spiel” zu gewinnen weiß.

Auch Kopetzkys Meister begegnet einer Mignon, dem zehnjährigen Paschtunenmädchen Ruia. Sie steht ihm während der tiefsten Höllenqualen seines Opiumentzugs zur Seite und pflegt ihn. Stichnotes Schicksal ist von diesem Leidensweg an eng mit dem ihrem verbunden. Von ihr lernt er Paschtunisch, in ihrer Umgebung wird er mit den Sitten und Gebräuchen der paschtunischen Stämme vertraut. Er lernt das Große Spiel der Paschtunen kennen und beginnt, wie ein Paschtune zu denken und zu fühlen. Dies ermöglicht ihm, sein Großes Spiel auf Seiten der Afghanen zu spielen.

Ruia bezahlt die Begegnung mit ihm letztlich mit ihrem Leben. Der Emir wird auf sie aufmerksam und zwingt sie in seinen Harem, wo die von ihm missbrauchte Zehnjährige stirbt. Diese Schandtat erzeugt in Stichnote den Hass und die Kraft, den Emir zu töten und damit den Lauf der Geschichte zu ändern. Der afghanische Vorname Ruia bedeutet „ein Traum, der irgendwann wahr wird“. Na, also!

Stichnote durchläuft im Roman drei Stadien, in denen sein Leben immer wieder auf Äußerste gefährdet ist. Im ersten Stadium ist er der technisch avancierte Funker, der die moderne, aber gewichtige und belastende Apparatur auf dem Weg nach Afghanistan begleitet. In der zweiten Phase ab Isfahan muss er die Funkanlage zurücklassen und nimmt an ihrer Stelle 230 Brieftauben mit: die Regression in eine frühere Phase der Nachrichtentechnik. In den folgenden Monaten der Wüstenmärsche nehmen seine Gesundheit und seine Kräfte ab. Wegen immer heftigerer Zahnschmerzen beginnt er, Opium zu rauchen. Es schwindet auch die Zahl der Tauben, bis nur noch drei übrig sind. Sie locken den Jagdfalken eines Paschtunen an, wodurch der halbtot in der Wüste Liegende entdeckt und gerettet wird. Durch Ruias Pflege wird er gleichsam paschtunisiert. Er bekommt den Falken als Geschenk und verfüttert die drei letzten Tauben an ihn. Die dritte Phase ist angebrochen.

Stichnote hat mit dem weißen Falken ein fürstliches Attribut bekommen (auch Wilhelm Meister erhält am Ende die ‚Königswürde’). Er wird tätig und versucht den Emir zu töten, was ihm nur durch Eingreifen des Falken gelingt. Damit wird den Afghanen ermöglicht, die Erkenntnisse, die er ihnen im Großen Spiel vermittelt hat, gegen die Engländer in die Realität umzusetzen, die künstlichen Kolonialgrenzen aufzuheben und das Land bis an die Küste zu befreien.

Und eigentlich hat Sebastian das alles nur getan, um von Karachi aus nach London fahren und seine Geliebte wiedersehen zu können!

Dieses dritte Stadium ist die einzige (und sehr kurze) Phase in Kopetzkys Roman, die kontrahistorische Fakten enthält. Der Autor lässt den afghanischen Emir Habibullah Khan drei Jahre früher einem Attentat zum Opfer fallen als in der Realität, um seinen alternativhistorischen Geschichtsentwurf am Ende des Romans umsetzen zu können. England ist dort schon 1916 zum Friedensschluss in Europa bereit. Im “Frieden von Verdun” werden – noch vor dem grossen Sterben, das wir mit diesem Ort verbinden - die Grundlagen für ein einiges Europa gelegt.

Der friedfertige bayerische Soldat Stichnote rettet die Welt. Kehren wir zurück zu seinen Gedanken während des ersten Einsatzes der “Breslau”:

“Wie verzweifelt war Deutschlands Ausgangslage, wenn seine Kriegsschiffe Fischer und Frachter versenken müssten, um eine Chance zu haben? Wenn es wirklich so schlecht stand, dass man nicht Englands Soldaten, sondern seine Bevölkerung angreifen musste, dann war es mit dem Reich so oder so vorbei. Und mit Bayern auch. Das mochte er nicht glauben. Konnte einfach nicht wahr sein (Risiko, S. 146).”


Nein, das kann nicht wahr sein.

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