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Freitag, 11. April 2014

Kaiserdämmerung (5) - Hermann Harry Schmitz, Die Promenade

Hermann Harry Schmitz, Die Promenade (1908)

Hermann Harry Schmitz
Paris hat sein Bois, London seinen Hyde-Park, wo sich die elegante Welt zu bestimmten Stunden zu treffen pflegt. Banausingen hatte »die Kastanienallee«, auf der sich der Bürger, der etwas auf sich hielt und das Savoir vivre erfaßt hatte, zwischen 12 und 1 Uhr mittags erging.
Auf und ab pendelte man zu dieser Stunde auf der Kastanienallee, auf und ab.
Sobald man die Promenade betrat, verschwand das Alltagsgesicht; man setzte eine feierliche Miene auf und schritt ernst und gemessen wie ein Ereignis daher. Der Größe des Augenblicks war man sich voll und ganz bewußt, voll und ganz.
Man kannte einander, oder zum wenigsten wußte man, wer der andere war. Man äugte krampfhaft umher, und sobald man einen Bekannten erblickte, grüßte man tief und auffallend. Vor Leuten, mit denen man per »Du« war, denen man am Stammtisch respektlos zurief: »Altes Rindvieh, bist du auch da, wie geht's?« schwenkte man, wenn man sie zur offiziellen Stunde auf der Allee traf, mit der gequälten Grandezza eines Hidalgo den Hut.
Mußte man viel grüßen, so wurde man beneidet und blähte sich in dem Bewußtsein, eine bekannte Persönlichkeit zu sein.
Hatte man einen neuen Anzug oder sonst ein neues Kleidungsstück an, hatte man zum Namenstag einen Pelzkragen, einen Stock mit silberner Krücke oder eine feine Meerschaumzigarrenspitze bekommen, versäumte man nicht, diese Kostbarkeiten, geschwollen vor Einbildung, seinen staunenden, neidischen Mitbürgern vorzuführen.
Frisch Verlobte schoben, ostentativ aneinandergehangen, mit enormem Selbstbewußtsein über die Allee.
Eine bedeutende, außerordentliche Rolle spielte auf der Promenade »der Leutnant« – der Leutnant vom Bezirkskommando, an welchem außer ihm noch ein überreifer Major als Kommandant und ein Feldwebel wirkten. Sonst lag kein Militär in der Stadt. Die Bürger sprachen mit maßlosem Stolz von »der Garnison«.
Die ungeteilte Bewunderung und das ehrfurchtsvolle Interesse der Bürger war auf die Person des Leutnants konzentriert, als dem Idealrepräsentanten des militärischen Gedankens.
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Es war die Sehnsucht jedes Bürgers, einmal in seinem Leben mit dem Leutnant auf der Promenade auf und ab zu gehen, auf und ab. –
Anatol Brustkorb hatte irgendwie den Leutnant kennen gelernt.
Eines Sonntags sah man Anatol, violett im Gesicht vor heiliger Erregung, Seite an Seite mit dem Leutnant auf der Promenade. Seite an Seite, angeregt plaudernd. Anatol sprach forciert laut in der Perspektive auf die anderen Leute.
»Weibäh, Weibäh«, schnarrte er. Der gute Anatol mit dem Gesicht voller Mitesser. »Weibäh, Weibäh! Färdäh, Färdäh!« vernahm der horchende, staunende Bürger aus Anatols Munde.
Als nun noch der Leutnant im Laufe des Gesprächs seinen Arm in den Anatols schob, wurde es zu viel für Anatol. Sein Kopf schwoll an zur Größe eines Sofapuffs. Ein Ohr sprang ab. Er barst. –
Die Bürger fanden es begreiflich. Es war ein erhabener Tod. –
Ein ehrfurchtsvolles Schauern und Raunen durchlief die Promenade, wenn »die Partie«, Uhda Kammillenbritsch, die Tochter des Kommerzienrates, mit hocherhobener Nase und läppischem Geschwenk daherkam. Die Mitgifthyänen schnupperten und reckten die Hälse. –
»Wie die das anstellen? Jeden Augenblick einen neuen Hut, jetzt wieder ein neues Jackettkleid. Ich kann das nicht«, meinte Frau Apotheker Meta Schnurze und schaute haßerfüllt Frau Krammelhust und Tochter nach. »Ich kann das nicht, weiß Gott!«
»Jetzt kommt der junge Doktor Löschkarton schon zum zweitenmal mit Cilly Scherzhaft auf die Promenade. Sind die denn verlobt? Arm in Arm gehen sie nicht. Ich weiß nicht, ich würde es nicht dulden, wenn es mein Kind wäre«, erregte sich Frau Bullerwurst.
»Der Leutnant hat Absichten auf Uhda Kammillenbritsch«, zitterten die heiratsfähigen Bürgersöhne, wenn der Leutnant beim Gruß die Hand länger als sonst an der Mütze behielt und besonders ostentativ die Brust herausdrückte. »Weiß Gott, er hat Absichten.«
»Der junge Hinterkopf hat sich den Schnurrbart englisch schneiden lassen, der Fatzke, der will was Besonderes rausbeißen«, meinte der Rat Schnödelkrum.
»Jetzt trägt die kleine Selma Suppenzapf einen Nerzpelz. Einen Nerz! Der fehlte der noch«, kopfschüttelte Frau Bruthitz.
»Mitkriegen tut die auch keinen mehr, wenn sie sich noch so viele Straußenfedern auf den Hut macht«, meinte Frau Mina Quellzisch und guckte sich nach Frieda Robbenzahm um.
So konstatierten flüsternd die feinsinnigen Bürger und Bürgerinnen und nickten im gleichen Augenblick den also Apostrophierten grüßend zu. Es waren feine, wohlerzogene Leute, die die Tradition liebten und jede Überraschung als taktlos verschrien.
Die Promenade galt ihnen als eine heilige Institution, deren Erhabenheit unantastbar dastand. Ein ernstes, würdevolles Hin und Her feierlicher Marionetten.
Toni Schamlos war ein Rüpel, ein richtiger Rüpel, alle Leute waren dieser Ansicht.
Eines Tages war er dagewesen. Niemand wußte so recht, woher er gekommen war und wovon er lebte. Er mußte sein Auskommen haben, denn er lebte nicht schlecht. Irgend jemand hatte in Erfahrung gebracht, daß sein Vater Regierungsrat und sein Bruder Leutnant war. Er war also ein Mensch, mit dem man verkehren konnte. Man wunderte sich sehr, daß er nirgendwo Besuche machte. Nicht bei Kommerzienrats, nicht bei Amtsrichters, bei Assessors und Doktors. Nirgendwo. Er lebte ganz für sich und kümmerte sich um niemand. Das verdroß die Bürger. Er hatte stets ein maliziöses Lächeln um den Mund, wenn er durch die Straßen kam. Er schaute vor sich hin und lächelte. –
Dann kam der Sonntag, an dem sich das Entsetzliche ereignete.
Rat Schnödelkrum war immer einer der ersten auf der Promenade. Er ging sehr stramm, drückte die Knie bedeutend durch und hustete tief von unten herauf. Exakt setzte er die Fußspitzen nach auswärts, trat immer mitten auf die Trottoirplatten und vermied es peinlich, auf den Strich zu treten, wo die Platten aneinanderstießen.
Assessor Bleffke, der auch immer recht zeitig auf der Allee war, versuchte den Rat zu überholen, um ihn zu grüßen. Seine Beine waren zu kurz; er kam ihm nicht bei. Dazu kam, daß ihm das Schuhbändel an einem Schuh losgegangen war und am Fuß herumbaumelte. Er tat, als ob er es nicht bemerkte, mußte aber aufpassen, daß er nicht auf das Bändel trat und hinschlug. –
Was hatte Rat Schnödelkrum auf einmal? Er mochte etwa die Mitte der Allee erreicht haben, als er plötzlich Halt machte und mit dem größten Interesse nach irgend etwas scharf schaute, nach irgend etwas am Fuß einer dicken Kastanie. Dann hustete er tief von unten herauf und schaute sich wie suchend um.
Seltsames Gebaren! Nun schüttelte er einigemal den Kopf und ging sinnend, langsam, mit schleppenden, nachdenklichen Schritten weiter, nur wenige Schritte, machte kehrt und ging zum Baum zurück.
Assessor Bleffke hatte mit ansehnlichem Erstaunen das Gebaren Schnödelkrums verfolgt und beeilte sich seinerseits, zu sehen, was das Interesse des Rats in solchem Maß in Anspruch nahm. Nil admirari, war sonst der Wahlspruch Bleffkes, der den Leutnant nicht mochte. Es mußte etwas Außergewöhnliches sein, was ihn nun gleichfalls wie Schnödelkrum an dem Baum festhielt. Erst stutzte er, dann verlangsamten sich seine Schritte, schließlich blieb er stehen und schaute gespannt nach dem Baum hinüber. Erst versuchte er verzeihend zu grinsen, dann aber wurde er ernst, und sein Gesicht bekam einen seltsamen, nervösen, fast angstvollen Ausdruck. Er machte einen Schritt nach vorne, trat auf das Schuhbändel und fiel platt auf das Gesicht: wie tot blieb er liegen. –
Es war ein schöner Tag. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Mehr und mehr füllte sich die Promenade.
Was hatten nur die Leute? Ernst und würdig, wie sonst, schob der Strom der Bürger und Bürgerinnen über die Allee – bis zu jener Stelle, die Rat Schnödelkrum und Assessor Bleffke bereits festgehalten.
Kamen die Leute in die Nähe der geheimnisvollen Kastanie, verlangsamten sich ihre Schritte, ihre Gesichter nahmen einen verblüfften Ausdruck an, der dann bald einer seltsamen Starre wich, sowie man dicht am Baum angelangt war. Krampfhaft waren alle Augen auf etwas am Fuße der Kastanie gerichtet. Den umgefallenen Assessor beachtete niemand.
Eine furchtbare Spannung sprach aus aller Augen.
Dichter und dichter wurde der Kreis um den Baum. Die neu ankamen, befragten flüsternd die zunächst Stehenden. Einige hastig zugeraunte Worte ließ sie in die gleiche, unheimliche rätselhafte Starre verfallen.
Wie ein Bann lag es auf den tüchtigen Leuten von Banausingen.
Was ging vor sich?
Schnödelkrum stand noch immer an der gleichen Stelle vor dem Baum. Hypnotisiert stierte er immer auf einen Punkt. Sein Gesicht war hektisch gerötet. Seine Brust hob und senkte sich in entsetzlicher Weise. Ein furchtbares Ringen in seinem Innern, und keuchend, ächzend stieß er hervor: »Weum, weum gehört düses Stöckerl? Weum, frage ich, weum?« –
An dem dicken Kastanienbaum stand schlicht und bescheiden ein dünnes Spazierstöckchen, mutterseelenallein, als ob es jemand soeben dort hingestellt hätte, um es gleich wieder abzuholen.
»Weum gehört düses Stöckerl?« schrie, stöhnte Schnödelkrum qualvoll. –
Der Besitzer der Stöckchens war nirgendwo zu sehen.
»Bubenspääähhße«, quetschte jemand grimmig hervor.
»Weum, weum?« Dringender, flehender klang des Rates Stimme, – »weum...«
Und plötzlich, mit einem gräßlichen Aufschrei, mit einem gigantischen Schwung stellte sich Schnödelkrum auf den Kopf und tanzte ruckweise emporschnellend in dieser unwürdigen Lage einen entsetzlichen Tanz; dröhnend schlug der Kopf auf dem Pflaster auf. Höher, höher flog die Gestalt. Ovaler, ovaler wurde der Kopf. Die ganze Gestalt nahm eine ovale Form an, drückte sich zusammen, sackte sich. Noch ein grandioser Sprung und Schnödelkrum hing mit einem Knie hoch oben in der Kastanie.
Bescheiden, schlicht lehnte das Stöckchen noch immer am Baum.
Die Starre der Menge war einer furchtbaren Raserei gewichen.
Mit den Schirmen stachen sich die Bürger selbst in die Augen. Andere krochen am Trottoirrand herum und versuchten von den Basaltsteinen Stücke abzubeißen, wieder andere hackten sich mit rostigen Beilen die Finger ab, manche zogen die Schuhe aus und ließen sich Siegellack auf die nackten Füße tropfen.
Ein Delirium hatte die Leute ergriffen.
Bescheiden, schlicht lehnte das dünne Stöckchen noch immer am Baum, mutterseelenallein – –
Niemand blieb verschont; keiner konnte es verwinden. Alle gingen an Nervenzerrüttung zugrunde. Nur dem Leutnant war es gelungen, sich nach Hause zu retten, als ihm aber plötzlich die erleuchtende Idee kam, man hätte doch einfach die Feuerwehr alarmieren sollen, trank er vierzehn Flaschen Likör und fünf Flaschen englische Sauce und starb auch. Es war schade um ihn, er hätte es sicher zum Hauptmann gebracht.
Zwei Bürger, die an diesem Tage nicht auf der Promenade waren – der eine hatte die Influenza, der andere Blinddarmentzündung – erlagen ihren Leiden.
Über die einsame, menschenleere, grasbewachsene Allee spazierte still vor sich hinlächelnd Toni Schamlos.

Aus: Sonntagsblatt des Düsseldorfer General-Anzeigers vom 12.4.1908;
Der Säugling und andere Tragikomödien, Leipzig 1911


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