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Mittwoch, 10. Oktober 2012

Zitate (01): Geschichtsbilder: Der Esel der Geschichte

Peter Sloterdijk zitiert in „Zeilen und Tage“ (2012) die folgenden Zeilen von Wilhelm Raabe und bezeichnet sie als „erstaunliches Zitat“:

„Verkehrt auf dem grauen Esel ‚Zeit‘ sitzend reitet die Menschheit ihrem Ziele zu… Welchem Ziel schleicht das graue Tier entgegen? Ist’s das wiedergewonnene Paradies, ist’s das Schaffott? Die Reiterin kennt es nicht; sie – will es nicht kennen!“

Wilhelm Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse (1856)

Warum ist Sloterdijk wohl so verblüfft? Offenbar wegen der Nähe von Raabes vor mehr als 150 Jahren geschriebener Betrachtung zu dem berühmten Benjamin-Text vom Engel der Geschichte, der in den Benjamin-Renaissancen der sechziger und neunziger Jahre immer wieder als verrätselte Ultima Ratio der modernen Geschichtsphilosophie zitiert wird:

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.”

Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, Frankfurt am Main 1965, 84f.

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