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Samstag, 23. Juni 2012

EYE wide open: Kubrick vs. Schnitzler

Anlässlich von „Stanley Kubrick: The Exhibition“ im neuen Amsterdamer Filmmuseum EYE bringe ich die Gegenüberstellung der spektakulären Szene aus Arthur Schnitzlers Traumnovelle (1926) und ihrer filmischen Umsetzung in Kubricks Eyes Wide Shut (1999): die Beschreibung einer Orgie, bei der es um die voyeurhafte Lust am Verhüllen und Enthüllen, Schauen und Beschautwerden geht.

Schnitzler arbeitete gerne mit Gegensätzlichkeiten: die in einem dunklen hohen Saal einer alten Villa Versammelten tragen Mönchs- und Nonnenkleidung, Zeichen der Entsagung, der Keuschheit; alle sind sie maskiert. Dann begeben die Nonnen sich in den benachbarten blendend hellen Raum, werfen dort ihre Kleidung ab und stehen völlig nackt da, bis auf die Maske, die ihre Identität verbirgt. Sie setzen sich still und aufrecht den Blicken hinter den Mönchsmasken aus: die Gleichzeitigkeit von totaler Entblößung und Verhüllung. Acht Mal kommen in dieser Textpassage Augen und Blicke vor, bohrende, tiefe Blicke und die „unsägliche Lust des Schauens“. Die Szene ist stark erotisch aufgeladen. Die Mönche werfen die schwarzen Kutten ab, unter denen sie weiße und farbige Festkleidung tragen und wählen jeweils eine Nackte zum Tanz. Dann wird Fridolin, der dies alles in wachsender Erregung beobachtet hat, hinausgeschickt.

Stanley Kubricks Film Eyes Wide Shut (1999), dessen Plot auf Schnitzlers Text beruht, führt diese Szene in aller Ausführlichkeit als ein mehr sektenartiges Ritual vor, präsentiert sie aber stilisierter und unerotischer als bei Schnitzler. Die Frauenkörper gleichen sich und wirken wie Schaufensterpuppen. Auch das sich anschließende vielfache Kopulieren, das bei Schnitzler gar nicht vorkommt, hat etwas Mechanisches, nichts Reizvolles.
Ich kann den Vergleich zwischen Buch und Film hier nicht weiter fortführen, habe aber den Eindruck, dass Kubrick dem Raffinement Schnitzlers nicht gerecht wird. Es war sein letzter Film und nicht sein bester. Aber es sind schöne Beispiele zum voyeurhaften Sehen.
Ich stelle die oben beschriebene Szene in der Text- und in der Filmversion vor:
»Parole?« umflüsterte es ihn zweistimmig. Und er erwiderte: »Dänemark.« Der eine Diener nahm seinen Pelz in Empfang und verschwand damit in einem Nebenraum, der andere öffnete eine Tür, und Fridolin trat in einen dämmerigen, fast dunklen hohen Saal, der ringsum von schwarzer Seide umhängt war. Masken, durchaus in geistlicher Tracht, schritten auf und ab, sechzehn bis zwanzig Personen, Mönche und Nonnen. Die Harmoniumklänge, sanft anschwellend, eine italienische Kirchenmelodie, schienen aus der Höhe herabzutönen. In einem Winkel des Saales stand eine kleine Gruppe, drei Nonnen und zwei Mönche; von dort aus hatte man sich flüchtig zu ihm hin und gleich wieder, wie mit Absicht, abgewandt. Fridolin merkte, daß er als einziger das Haupt bedeckt hatte, nahm den Pilgerhut ab und wandelte so harmlos als möglich auf und nieder; ein Mönch streifte seinen Arm und nickte einen Gruß; doch hinter der Maske bohrte sich ein Blick, eine Sekunde lang, tief in Fridolins Augen. Ein fremdartiger, schwüler Wohlgeruch, wie von südländischen Gärten, umfing ihn. […]

Plötzlich flüsterte eine weibliche Stimme hinter ihm: »Wenden Sie sich nicht nach mir um. Noch ist es Zeit, daß Sie sich entfernen. Sie gehören nicht hierher. Wenn man es entdeckte, erginge es Ihnen schlimm.«

Fridolin schrak zusammen. Eine Sekunde lang dachte er der Warnung zu folgen. Aber die Neugier, die Lockung und vor allem sein Stolz waren stärker als jedes Bedenken. Nun bin ich einmal so weit, dachte er, mag es enden, wie es wolle. Und er schüttelte verneinend den Kopf, ohne sich umzuwenden.

Da flüsterte die Stimme hinter ihm: »Es täte mir leid um Sie.«

Jetzt wandte er sich um. Er sah den blutroten Mund durch die Spitzen schimmern, dunkle Augen sanken in die seinen. »Ich bleibe«, sagte er in einem heroischen Ton, den er nicht an sich kannte, und wandte das Antlitz wieder ab. Der Gesang schwoll wundersam an, das Harmonium tönte in einer neuen, durchaus nicht mehr kirchlichen Weise, sondern weltlich, üppig, wie eine Orgel brausend; und um sich schauend, merkte Fridolin, daß die Nonnen alle verschwunden waren und sich nur mehr Mönche im Saale befanden. Auch die Gesangsstimme war indes aus ihrem dunklen Ernst über einen kunstvoll ansteigenden Triller ins Helle und Jauchzende übergegangen, statt des Harmoniums aber hatte irdisch und frech ein Klavier eingesetzt. Fridolin erkannte sofort Nachtigalls wilden, aufreizenden Anschlag, und die vorher so edle weibliche Frauenstimme hatte sich in einem letzten grellen, wollüstigen Aufschrei gleichsam durch die Decke davongeschwungen in die Unendlichkeit. Türen rechts und links hatten sich aufgetan, auf der einen Seite erkannte Fridolin am Klavier die verdämmernden Umrisse von Nachtigalls Gestalt, der gegenüberliegende Raum aber strahlte in blendender Helle, und Frauen standen unbeweglich da, alle mit dunklen Schleiern um Haupt, Stirn und Nacken, schwarze Spitzenlarven über dem Antlitz, aber sonst völlig nackt. Fridolins Augen irrten durstig von üppigen zu schlanken, von zarten zu prangend erblühten Gestalten; – und daß jede dieser Unverhüllten doch ein Geheimnis blieb und aus den schwarzen Masken als unlöslichste Rätsel große Augen zu ihm herüberstrahlten, das wandelte ihm die unsägliche Lust des Schauens in eine fast unerträgliche Qual des Verlangens. Doch wie ihm erging es wohl auch den andern. Die ersten entzückten Atemzüge wandelten sich zu Seufzern, die nach einem tiefen Weh klangen; irgendwo entrang sich ein Schrei; – und plötzlich, als wären sie gejagt, stürzten sie alle, nicht mehr in ihren Mönchskutten, sondern in festlichen weißen, gelben, blauen, roten Kavalierstrachten aus dem dämmerigen Saal zu den Frauen hin, wo ein tolles, beinahe böses Lachen sie empfing. Fridolin war der einzige, der als Mönch zurückgeblieben war, und schlich sich, einigermaßen ängstlich, in die entfernteste Ecke, wo er sich Nachtigall nahe befand, der ihm den Rücken zugewendet hatte. Fridolin sah wohl, daß Nachtigall eine Binde um die Augen trug, aber zugleich glaubte er zu bemerken, wie hinter dieser Binde seine Augen in den hohen Spiegel gegenüber sich bohrten, in dem die bunten Kavaliere mit ihren nackten Tänzerinnen sich drehten.

Plötzlich stand eine der Frauen neben Fridolin und flüsterte – denn niemand, als müßten auch die Stimmen Geheimnis bleiben, sprach ein lautes Wort : »Warum so einsam? Warum schließest du dich vom Tanze aus?«

Fridolin sah, daß von einer anderen Ecke her ihn zwei Edelleute scharf ins Auge gefaßt hatten, und er vermutete, daß das Geschöpf an seiner Seite – es war knabenhaft und schlank gewachsen – zu ihm gesandt war, ihn zu prüfen und zu versuchen.

(Arthur Schnitzler, Traumnovelle, 1926)

Und hier ist die Filmversion (bitte anklicken).

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